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Leseprobe

(C) 2011 Jorge Maga
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Kapitel 1 - Kapitel 2 - Kapitel 3

Frederik verlässt die Steuerkabine der Homeserver-Unit, von den meisten kurz UNIT genannt. Sie ist eine geniale Erfindung, ermöglicht sie es doch, an einer Arbeitsstelle zu arbeiten, die auf einem anderen Kontinent liegt. Dass damit ebenfalls Spiele gespielt werden können, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Da der Spieler durch das Fullbody-Kontrollsystem mit seinem ganzen Körper integriert ist, kann er stehen, sitzen, laufen. Endlich sind die Sportspiele richtig anstrengend. Aber solche Spiele sind nichts für Frederik. Arbeiten, das geht auch während seiner Pflichtausbildung, die er ein weiteres Jahr durchstehen muss, bis er endlich fertig ist. So lange kann er Modern Wargames spielen, das ist genug Training. Ganz unrecht hat er nicht, zumindest was das Training anbetrifft, denn dazu kommt der Sport in der Schule und das regelmäßige Gewichtstraining mit seinen Freunden. Das reicht, um dem Körper des Siebzehnjährigen die uncoolen Pubertätsproportionen auszutreiben, finden er und seine Freunde. Nur der Kopf, der könnte etwas mehr trainiert werden, das finden zumindest seine Eltern. Frederik ist das egal, ihm reicht es, den Abschluss der Pflichtausbildung zu schaffen, anschließend kann er endlich machen, was er will.


„Mama, die Kiste ist frei,“ ruft Frederik und kämmt sich mit seinen Fingern grob seine dunkelbraunen Locken, die sich störrisch und leicht fettig auf seine Schultern kräuseln. Lucy ist zwar seine Stiefmutter, aber sie hat sich gewünscht, dass er sie Mama nennt. Sie fände es schöner, würden sie auf diese Weise eher einer richtigen Familie gleichen. Ihm war es egal und er tat ihr den Gefallen.

„Oh, so früh schon? Und? Wieder gewonnen?“ tönt es aus dem Wohnzimmer.

„Klar, diesmal hat es sich richtig gelohnt.“ Er braucht nicht mehr laut zu rufen, denn Lucy ist in den Flur gekommen. Sie ist groß, hat geheimnisvoll schimmerndes schwarzes Haar und ist intelligent. Ein guter Durchschnitt, der dank ausgeklügelter Unterrichts-, Ernährungs- und Fortpflanzungssysteme für jeden erreichbar ist. Dicke und dumme Menschen gibt es nicht mehr, sie dienen nur noch dem Amüsement in Anekdoten und ausgesuchten alten Filmen. Manchmal denkt Frederik an seine eigentliche Mutter, die normal aufgewachsen war. Aber seine Erinnerung an sie ist verschwommen. Er war zu jung, als sie eines Tages nicht nach Hause kam, und weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Eric, sein Vater, spricht nicht mit ihm darüber. Nur eines weiß er, sie hatte nicht die übliche Standardfigur sondern war gemütlich pummelig. Seine eigene Lockenpracht hat er von ihr geerbt, und er hat es geliebt, auf ihrem Schoß zu sitzen, und sich an ihren weichen Bauch und Busen zu kuscheln. Ganz anders Lucy. Nicht dass er sie nicht mag, sie ist lieb und nett, aber eben nur lieb und nett. Außerdem macht sie sich ständig Sorgen um ihn. Sie ist doch nur seine Stiefmutter, es kann ihr egal sein, was aus ihm wird.

„Das ist ja prima. Vielleicht kannst du die Erfahrungen, die du dort beim Arbeiten sammelst, einmal gebrauchen.“

Was ein Glück, dass du nicht weißt, welche Erfahrungen ich dort mache, denkt sich Frederik und verabschiedet sich mit einem Küsschen auf die Wange seiner Stiefmutter. Er wollte weg, seine Freunde besuchen.


Lucy schaut ihm hinterher, seufzt kurz und geht zu Eric ins Wohnzimmer. Sie hat tatsächlich keine Ahnung von Frederiks heimlichem Treiben, obwohl sie seine Vorlieben für solche gewalttätigen Computerspiele kennt. Ein Thema, über das sie sich mit ihrem Mann des öfteren unterhalten hat. Sie wundert sich über Frederiks Sorglosigkeit und setzt sich auf die ramponierte Couch ihrer Sitzgarnitur, die sich über die Jahre an jene Antiquität in der Mitte angepasst hat, einem unglaublich hässlich verschnörkelten Tischchen aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

„Frederik hat wohl wieder was bei seinen Servicejob-Wettspielen gewonnen. Dafür scheint er ja immerhin ein Händchen zu haben!“ ruft sie durch die geöffnete Schiebetür, welche das Wohnzimmer mit dem Arbeitsplatz ihres Ehemannes verbindet. Auch das hatte sie sich gewünscht, nicht die Schiebetür, sondern dass Eric sie heiraten sollte. Es war seit ihrer Kindheit der größte Wunsch gewesen, eine richtige Familie zu gründen, um sich auf diese Weise von der Allgemeinheit zu unterscheiden. Keine Antwort erwartend nimmt sie ihr Glas von jenem kitschigen Ungetüm eines Tisches und trinkt den letzten Schluck ihres Vitamintrunks.

„Na ja, für mich ist das nach wie vor die reinste Ausbeuterei. Zehn Mal so viel müsste er für diese Arbeit bekommen. Ganz abgesehen von den anderen, die bei dem Wettstreit leer ausgegangen sind, ihre Arbeit aber mit Sicherheit trotzdem gemacht haben,“ moniert Eric. Ihm gefällt diese Art Wettspiel nicht. „Daraus sollten die besser richtige Servicejobs machen. Dann würde es weniger Arbeitslose geben.“

„Trotzdem ist mir das immer noch lieber, als dass er an seinem elenden Spielcomputer Krieg spielt,“ erwidert Lucy, obwohl sie grundsätzlich gleicher Meinung ist. Sie wechselt schnell das Thema. „Habe ich schon erzählt, was heute in der Parkanlage passiert ist? Ich habe dort mit Sophie auf einer Bank gesessen, als plötzlich Wolken aufgezogen sind. Und dann hat es angefangen zu regnen!“

„Das gibt es nicht! Sind die tatsächlich mit der Installation der neuen Wetteranlage fertig geworden?“ Eric ist überrascht. Er hatte zwar in den Nachrichten gehört, dass die Arbeiten fortschreiten würden, aber so schnell hatte er nicht damit gerechnet. „Und? Wie ist es?“ er erhebt sich aus seinem bequemen Drehstuhl und ist neugierig auf Lucies Bericht.

„Einfach unglaublich. So einen sanften Frühlingsregen kannte ich nur noch aus dem Kino. So was mal wieder richtig zu erleben war einfach toll. Erst zogen Wolken auf, keine Ahnung, wie die das machen ...“

„Eine neuartige Projektion, dreidimensional“ unterbricht Eric begeistert.

„Kann sein, jedenfalls wurden die Wolken immer dichter, aber die Sonne kam an einzelnen Stellen noch durch. Schließlich fing es ganz sanft an zu regnen, weißt du, dieses leise Rieseln und Rauschen, eben wie im Kino. Einfach toll.“ Lucy bekommt einen richtig verträumten Blick. „Das ist so lange her, als ich das letzte Mal im Regen herumgelaufen bin – noch bevor wir uns kennengelernt haben.“

„Bei euch gab es normalen Regen? Also bei uns in Mittelafrika hat es entweder geschüttet und gestürmt oder es war strohtrocken. Beides unerträglich. Eigentlich haben wir uns auch immer nur drinnen aufgehalten. Deswegen war die Entscheidung für mich nicht schwer, nach Europa zu gehen. Ob es über mir nun regnet oder schneit, heiß oder kalt ist, egal. Dafür wird meine Arbeit hier besser bezahlt.“

Eric ist Mitte dreißig, Fachmann für Telekommunikation, und hat als Jugendlicher das Netzwerk in der Firma seines Vaters aufgebaut und gewartet. Zusätzlich hat er diese Fähigkeit durch Studium und Kurse perfektioniert. Ganz nach oben kann er es nicht schaffen, das ist für jemanden aus der Server-Class nicht möglich. Sein Vater war nach dem Klimagau zur falschen Zeit am falschen Ort, hat das Beste daraus gemacht und seinem Sohn einen guten Start ermöglicht. Es war seine Idee, Eric zum Telekommunikationstechniker auszubilden, und er hat richtig damit gelegen. Nach dem GAU war das gesamte Kommunikationsnetz zusammengebrochen. Vieles konnte zwar schnell wieder in Betrieb genommen werden, aber es bleibt genug Arbeit. Die gesamte Nordhalbkugel war in kürzester Zeit unbewohnbar, es gab eine Völkerwanderung in die südlichen Regionen, wie es diese Welt bisher nicht erlebt hatte. Erst nach zwanzig Jahren werden die ersten Siedlungen im Norden errichtet, dringend benötigte Meisterwerke der Architektur, die dem widrigen Klima trotzen. Zu viele Menschen drängen sich auf der Südhalbkugel, ein brisantes Problem. Außerdem sollen die Rohstoffe der Nordhälfte wieder genutzt werden. Diese waren so wertvoll geworden, dass sich der immense Aufwand rechnet. Als eine neue Ansiedlung im Herzen Europas aufgebaut werden sollte, direkt auf dem Zentrum des alten Paris, wurde Eric angeboten, als Chefingenieur die Installation und Wartung des gesamten Kommunikationsnetzes der Stadt zu überwachen. Ein Traumjob und Pionierarbeit dazu. Besser hätte es Eric nicht erwischen können. Natürlich hatte er sofort zugesagt, und wenn er behauptet, er hätte dies wegen des besseren Verdienstes gemacht, ist das pure Untertreibung. Und Lucy weiß das.

„Du hast gut reden. Erzähle mir doch nicht, dass du nur wegen des Geldes hier bist. Einen Traumjob hast du.“

„Aus dem Du ja wohl genauso Nutzen ziehst,“ erwidert Eric mit einem schelmischen Grinsen, das sein wettergezeichnetes Gesicht unter dem braunen Igelschnitt gerissener erscheinen lässt. Nicht umsonst hat sich Lucy diesem Mann gleich zugetan gefühlt, als sie ihn kurz nach ihrem Umzug nach Nouveau-Paris kennengelernt hatte. Und dass sich dieser Mensch dazu als ein intelligenter, anständiger, kurz idealer Lebenspartner herausgestellt hat, perfekt! In dieser Lage muss Lucy nicht arbeiten, aber den ganzen Tag herumsitzen ist genauso nichts für sie. Und nicht Müssen hat seine großen Vorteile, zum Beispiel kann sie bei der Job-Suche wählerisch sein und braucht nicht jedes erstbeste Angebot annehmen. Das ist der Grund, weshalb sie erneut auf der Suche ist. Der Job, den sie zurzeit hat, ist nicht begeisternd. Sie serviert in einem Hotel in Puerto Rico und hatte gehofft, auf diese Weise wenigsten ab und zu etwas Ähnliches wie ein Heimatgefühl zu erhaschen. Nichts dergleichen. Zum einen kommt das Feeling trotz moderner Technik nicht über die Kabel und Sender, wenn sie über die Unit den Roboter dort steuert. Zum anderen meinen die Hotelgäste, sie könnten mit einem Roboter machen, was sie wollen. Sie vergessen zu schnell, dass dieser von einem Menschen gesteuert wird, der das alles erdulden muss. Sie wünscht sich, dass bald einer der Plätze in einem Privathaushalt frei wird, die ausschließlich an „Trusted Server“ vergeben werden, ein Titel, den bisher wenige Server mit viel Mühe und Erfahrung, spezieller Ausbildung und einwandfreiem Ruf erhalten haben. Und Lucy hat sich diesen Titel erarbeitet und hofft, dass sie es an einem solchen privaten Arbeitsplatz mit interessanteren Menschen zu tun hat. Im Augenblick sind ihre Gedanken jedoch in der Vergangenheit versunken, in ihrer ehemaligen Heimat.

„Oh ja, es gab da wirklich noch normalen Regen, diesen sanften Frühlingsregen. Natürlich nur manchmal. Meistens hat es auch bei uns nur in Strömen gegossen. Doch ab und zu gab es genau diesen sanften Frühlingsregen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal nach Regen sehnen würde. Es sind schon merkwürdige Zeiten.“

Eric seufzt. Deutlich erinnert er sich an die Abende, an denen sein Großvater von seiner Kindheit schwärmte, der guten alten Zeit. Damals, zur Jahrtausendwende, konnten sie draußen auf der Wiese vor ihrem Haus am Waldrand spielen. Da sollen zwar die ersten Vorboten des Klimagaus bemerkbar gewesen sein, aber sie wurden gründlich ignoriert und als Kind habe er nichts davon mitbekommen. Das war Stoff für Film und Fernsehen, die Realität sah anders aus. Und seine Eltern? Die hätten andere Probleme gehabt. Politik, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen und Kriege. Wen habe da das Klima wirklich interessiert. Und dann sei das passiert, vor dem all jene als Pessimisten abgestuften Wissenschaftler eindringlich gewarnt hatten. Nicht so, wie sie es erwartet hatten, es gab zu viele unbekannte Faktoren, die das globale Klima beeinflussten. Letztendlich war es von allen Prognosen etwas. Irgendwie wird es schon weitergehen, soll die Devise seiner Eltern gewesen sein, eine weitverbreitete Meinung zu jener Zeit. Sie hätten ja auch gut reden gehabt, hatten sie selbst die Folgen ihrer Ignoranz nicht zu spüren bekommen. Eric erinnert sich, wie die schwärmerische gute-alte-Zeit-Stimmung seines Großvaters an dieser Stelle seiner Erzählungen jedes Mal in Frust und Resignation umschlug. Es ändert auch nichts mehr, denkt Eric sich, er lebt in der Welt nach dem GAU, und versucht das Beste daraus zu machen. Dass er mit dieser Einstellung seinen Urgroßeltern erschreckend gleicht, gesteht er sich nicht ein.

„Hallo, bist du noch da?“ unterbricht Lucy seine gedankliche Reise in die Vergangenheit. Er schreckt auf und entschuldigt sich. Sie will sich schnell verabschieden, um für die nächsten Stunden in der UNIT zu verschwinden. Das bedeutet für Eric, zurück an die Arbeit zu gehen. Mit einem weiteren Seufzer sieht er Lucy nach, geht in sein Arbeitszimmer und lässt sich in seinen bequemen Sessel an seiner Computerbasis fallen, auf deren unzähligen Monitoren und Anzeigen der Zustand aller Kommunikationssysteme in Nouveau-Paris ablesbar ist.


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